Wir sind das Spielzeug ...
Wilhelm Kreimeyer hat seine neue Werkgruppe von Großfotografien unter das Motto "Toys´r us" gestellt und zitiert damit den Namen der bekannten weltweit operierenden Spielzeugkette. "Toys`r us" heißt "Das Spielzeug sind wir" und will sagen, wer Spielzeug kauft, kommt zu uns, denn wir haben alles! Entsprechend sind die "Toys`r us"-Filialen ikeaeske Großcontainer an der Peripherie der Ballungsräume, in denen sich das Spielzeug in Hochregalen bis unter die Decke stapelt: Parallelwelten en miniature, die nur darauf warten, von Kinderhänden zum Leben erweckt zu werden. Aber was ist, wenn dieses Spielzeug bereits ein Eigenleben führte, jenseits der mensxhlichen Aufmerksamkeit, wenn die Rolltore der Filialen heruntergelassen sind? Entbrennen dann Playmobil-Figuren in Leidenschaft zueinander, führen dann Spielzeugpanzer Krieg gegeneinander und Barbie-Puppen versuchen sich ihrem geschlechtneutralen Schritt etwas Spaß zu entlocken? Nach Special-Effect-Filmen zu diesem Thema, wie Barry Levinsons (mißratenem) "Toys" (1992) und den beiden (dafür um so gelungeneren) "Toys-Stories" (1995 und 1999) scheint das nicht nur nicht abwegig, sondern hat sich als spielerisch denkbare Option tief in das kollektive Bewußsein der Popkultur eingeprägt. Unter diesem Aspekt wäre "Toys`r us" mehr als nur das Zitat eines Markennamens. "Toys`r us" könnte zur marxistischen Kampfansage einer unterdrückten Klasse avancieren. Kleine Plastikwesen schreien in die Welt hinaus: "Wir sind das Spielzeug"
Ohne Zweifel kokettiert Wilhelm Kreimeyer in seinen inszenierten Fotografien mit einem eigenen Willen des von ihm verwendeten Spielzeugs. Der Künstler als der In-Szene-Setzer, tritt hier noch viel radikaler als z.B. beim Kasperletheater in den Hintergrund. Die inszenierende Hand ist nie im Bild anwesend. Hier darf das Spielzeug sich selbst entfalten und in nicht reglementierter Weise mit der wirklichen Welt, d.h. einer Realität, die sich durch soziale, politische und sexuelle Mündigkeit auszeichnet, korrespondieren. wenn sich ein Gartenzwerg roten Nelken hingibtund ein anderer die rote Fahne schwenkt, dann sind das die Vorboten einer Revolution, in deren Verlauf sich die Zwerge aus der Enge ihrer bourgeoisen Vorgärten befreien werden, um für ihre Klasse zu streiten. Selbst der Vertreter des Establishments (=Polizist) beginnt aus der Rolle zu fallen, indem er sich auf homoerotische Weise seinem gesellschaftlichen Gegenentwurf (=Teufel) nähert: Ein Diener der alten sagen wir: der Adenauer-Republik (gut zu erkennen an der Uniform) im Rausch der Sinne inmitten der "Kommune 1".
Frösche (=Märchenprinzen) bespringen Blondinen und schaffen damit Tatsachen, noch bevor sie ein verwandelnder Kuß treffen kann. Eine Blondine ringt ihrerseits dem Teufel die feministische Interpretation einer Fellacio ab, während ein New-Economy-Ken sein Sparschwein penetriert. Spätestens wenn sich Kasper eine kleine braune Plastikwurts aus dem Kaufmannsladen besorgt, sich diese omnipotent in den Schritt hält und mit breitem Grinsen zu den Protagoniost(inn)en auf den anderen Bildtafeln hinüberschielt, ist klar, daß diese Welt ihre kindliche Unschuld verloren hat. Aber welche "Unschuld"? Jene Unschuld mit der Kinder auf grausamr Art andere Kinder beim Spiel auszugrenzen pflegen? Oder die Unschuld die im kindlichen Puppenspiel die Traumata des Elternhauses nachvollzieht?
Wenn wir davon ausgehen, daß jede Form von Spiel ein neugierig forschendes Simulieren von Realität darstellt, dann kann es kein "unschuldiges" Spiel geben. Kasper, Gretel, Polizist und Großmutter sind Synonyme, aber keine Persönlichkeiten. Sie sind Versatzstücke eines offenen Systems vor variablen Kontexten. Wenn Wilhelm Kreimeyer seine Großmutter-Handpuppe vor einer kleinen Fotografie plaziert, dann ist das mehr als bloßes nostalgisches Dekor. Die Fotografie zeigt einen jungen Mann mit deutlich erkennbaren SS-Insignien, Doppelblitz und Totenkopf. Hat die gütig lächelnde Großmutter also einen Jungoffizier aus Hitlers Elitecorps an der Brust gesäugt? War sie selbst vielleicht eine stramme Parteigängerin? Und wie haben wir "Hilde" einzuschätzen, jenen uns spöttisch von oben herab fixierenden Vamp, der eigentlich Gretel zu geben hat, jene Personifizierung der Tugend, die der Polizist gewöhnlich hingebungsvoll und sarndhaft zu verteidigen weiß. Ihre blonde, auffällig zur Seite geflochene und gekringelte Haartracht gemahnt hier an jene deutscheste aller Zeiten, als blauäugige Mädchen von Helden träumten, die Siegfried hießen. Aber für welche "Hilde" sollen wir uns entscheiden? Brunhilde? Krimhilde? Oder handelt es sich lediglich um eine der unzähligen Vorzeigearierinnen im BDM?
An dieser Stelle der Rezeption will sich Wilhelm Kreimeyer zu Recht nicht weiter festlegen lassen. Er bietet uns ein alternatives Puppenspiel an, in dem Erwartungen und vertraute Klischees unterlaufen werden, in dem sich unerwartete Kontexte erschließen lassen und sich vermeintliche Tabubrüche ereignen. Eine Bewertung des Geschehens bleibt jedoch den Betrachtern überlassen. Und auch das steht pe se fest in der Tradition des Spiels: Der Aspekt der Freiheit - sich die Freiheit zu nehmen, die Figuren zu ziehen, wie es einem beliebt, stets mit dem Wissen darum, daß alles auch ganz anders sein kann.
Alexander Braun 2003