Zwischen den Zeilen: Fotoarbeiten von Christel Koerdt


Wer schauenden Auges durch die Welt geht, entdeckt einiges. Wenn ein Künstler, in unserem Falle eine Künstlerin mit offenen Augen durch die Welt reist, gibt es Entdeckungen anderer Art, denn das künstlerisch geschulte Auge schaut anders, es beurteilt die Dinge, die es sieht, häufig auch nach ästhetischen Kriterien.

Wenn Christel Koerdt, die sich in ihrer künstlerischen Arbeit – wie viele der hier Anwesenden wissen – in unterschiedlicher Weise mit Zeichen, mit Sprache und deren Verschlüsselungen, also mit Kryptographie, mit Codierungen auseinandersetzt – , wenn also Christel Koerdt im Alltag wie auf Reisen etwas entdeckt, das ihre künstlerische Aufmerksamkeit erregt, so können wir gewiss sein, dass sie es auch in ihrer Signifikanz, in ihrer Bedeutung und Bedeutsamkeit konzeptuell hinterfragt.

Fasziniert von den vor unserer aller Augen auftauchenden, aber kaum wahrgenommenen Spuren von Giebeln an Brandmauern und an Häuserwänden, den verbliebenen Schattenzeichnungen vergangener Architektur, begab sich Christel Koerdt auf Spurensuche und entdeckte – bewusst konzentriert auf das motivisch umgrenzte thematisches Repertoire "Giebel" - eine oft übersehene Welt von Leer-Zeichen in der Architektur unserer Städte.

Ob im deutschen, europäischen oder asiatischen Raum, ob in der Metropole Berlin, in den antiken Resten Roms, im modernen Tokio, in ihrer Heimatstadt Dortmund und anderswo, stets fand Christel Koerdt – zwischen den Häuserzeilen – die Zeichen der Zeit, die Spuren jüngster oder längst vergangener baulicher Veränderungen: die Spuren von Abbruch, Umbau und Aufbau. Ihre Fotografien zeigen uns diese Verän-derungen als in die verbliebene Architektur eingeschriebene Lineaturen des Gewe-senen.

Gerade die fotografische Dokumentation dieser in und auf die Hauswände fixierten Zeichen der Vergangenheit erschien der vorrangig bildhauerisch, skulptural und konzeptuell arbeitenden Künstlerin als das geeignete Medium, um sich des Themas systematisch zu nähern und sich selbst wie auch uns ein vergleichendes Sehen zu ermöglichen.

Christel Koerdts fotografisch-dokumentarische, und dennoch stets aus subjektivem Blickwinkel erfolgten Erkundungen im städtischen Raum weisen Merkmale auf, die sie vergleichbar machen mit Fotografen wie August Sander, Eugène Atget und nicht zuletzt Hilla und Bernd Becher. So porträtierte Sander Anfang des 20. Jahrhunderts Menschen mit beruflichen Attributen unter dem Leitthema "Anlitz der Zeit" mit einer quasi-wissenschaftlichen Methode. Er betrieb ein systematisches Studium der Wirklichkeit und verfolgte einen bildnerischen Ausdruck, der von einem konzeptuellen Denken geprägt war – Merkmale, die – wenngleich auf einer anderen Motivebene - auch die Fotografie Koerdts kennzeichnen. Auch zu dem französischen Fotografen Eugène Atget, der im ausgehenden 19. Jahrhundert den Wandel des im Stadtkern noch mittelalterlich geprägten Paris zur modernen Metropole fotografisch erfasste, gibt es bei Koerdt ebenso Berührungspunkte wie zu Bernd und Hilla Becher, deren Ziel es war und ist, industrielle Relikte vor deren Abbruch zu archivieren. Doch Koerdt löst nicht wie Bernd und Hilla Becher das Motiv, das Objekt aus seinem Ursprungskontext und bietet es als Solitär, sondern zeigt es trotz der Fokussierung als Teil eines Ganzen. Präsentieren die Bechers mit ihren Fotografien, die sie häufig in Form von Tableaus arrangieren, gewissermaßen die Ikonen einer Industrie-architektur, die es in der Wirklichkeit so kaum noch gibt, so verweist Koerdt mit ihren Arbeiten auf die Gegenwart, auf ein Hier und Jetzt.

In der Fokussierung auf die Leere, die Lücke, die Lineatur des Gewesenen verweist sie mit ihren Arbeiten stets auch auf das Nebeneinander, das Miteinander-Verwach-se--ne und auf die Narben der Trennung. Ihre Fotografien halten uns die "Wunden der Erinnerung" vor Augen, allerdings nicht wie in den 80iger Jahren Andreas von Weizäcker, der in einer gemeinsamen Arbeit mit Beate Passow, fotografisch den "Wunden" des zweiten Weltkrieges auf der Spur war, und sichtbare Granateinschläge in verschiedenen europäischen Gebäuden sowie Verbrennungen von Baumgipfeln in polnischen und tschechischen Wäldern dokumentierte.

Christel Koerdts in der Architektur der Städte aufgefundene Wundmale sind Verlust-zeichen, die uns nicht nur Einblicke in das bislang Verborgene, sondern auch An-haltspunkte für die Imagination des Verlorenen geben.

Wir sehen Abrisskanten in der Fassadenverblendung, wir erblicken offen liegendes Fachwerk zwischen brökelndem Putz, wir erkennen Skizzierungen von Etagen, von Treppenhäusern, die Schattenbilder von Türen und Fenstern auf einer mehrere Jahre alten Patina.

Koerdts Fotografien zeigen uns die in Mauern und Wände eingeschriebenen, aber von uns selten wahrgenommenen Architekturzeichnungen im Stadtraum. Es sind Notationen ehemals gelebter oder auch neu belebter Architektur, in Stein geschriebe-ne Erinnerungen menschlicher Lebens- oder Arbeitsräume. Sie präsentiert uns sichtbare Wandzeichnungen architektonischer Veränderungen, die uns Aufschluss über Höhe und Breite, manchmal aber auch über die Aufteilung der Zimmer oder die Farbgestaltung der Wände vermitteln, und nicht zuletzt evozieren diese Zeichen an der Wand Fragen. Wer hat hier gewohnt? Warum und wann erfolgte der Abriss, der Umbau? Warum liegt das Grundstück brach? Was passiert hier in nächster Zukunft?

Manche der offen gelegten Brandmauern präsentieren eine artifzielle Lineatur, die wie trompe l’oeils, wie Augentäuschungen wirken. Wie Relikte aus einem Schatten-reich erscheinen Fenster und Türen, die weder Zutritt noch Ausgang gewähren. Es sind Zitate aus der Welt von Konstruktion und Destruktion im Zustand der Stagnation. Koerdt zeigt uns einen Moment der Stille. Einen Zustand, indem sich Vergangenheit und Zukunft berühren.

Koerdts Fotoarbeiten von Häusern mit Giebelspuren sind getragen vom Interesse an den Zeichen, die sie geben. Insofern präsentieren sie uns nicht nur das Abbild einer vorgefundenen Realität, sondern stets auch eine künstlerische Bildlösung. Auffallend ist, dass nur wenige ihrer Fotografien trotz des städtischen Umfelds Menschen zeigen – es ist das Haus, das hier als pars pro toto für den Menschen steht. Es ist ihm Herberge und Heimstatt, der Giebel geradezu sein archetypisches Zeichen.

Seit der Mensch die Höhle verlassen hat, scheint sich die dreieckige Giebelform zu einem grenzüberschreitenden weltweit verstandenen Symbol für Haus entwickelt zu haben. Auf Madagaskar, bei den Suahelis, in nördlichen Teilen des Kongos und den waldreichen Teilen Westafrikas finden wir das Giebeldachhaus ebenso verbreitet wie in unseren Landen.

[Interessanterweise finden wir das Motiv des Giebels auch im asiatischen Raum, sprich in der japanischen und chinesischen Kalligraphien für Haus, obwohl man hier eher von Pagode spricht.]

Dass der Giebel sich als ein allgemeinverständiges Signum für den Begriff "Haus" erweist, zeigt sich bereits in dem uns allen wohl bekannten zeichnerischen Spiel aus Kindertagen, bei dem mit acht Strich- und Silbensetzungen "Das ist das Haus vom Nikolaus" stets mit einem Giebel ge(kenn)zeichnet wird.


Lassen Sie mich hiermit den Kreis, der uns von der Architektur unserer Städte über die ästhetische Spurenlese einer Künstlerin, die zwischen den Zeilen zu lesen vermag, und uns schließlich zur globalen Sprache des Giebels führte, schließen. Ich wünsche anregende Gespräche und danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Marina Schuster
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