Das Fleisch der Wörter


Christel Koerdts Werk "Das Fleisch der Wörter" besteht aus einer massiven Kunststoffkugel geformt aus tausenden von schwarzen Klebebuchstaben. Dazu gehören mehr als 600 Trägerpapiere (je 70 x 50 cm), auf denen die Buchstaben ausgeplottet wurden. Zu erkennen sind dort noch die Vertiefungen der geschnittenen Buchstabenkonturen, d.h. die Spuren des Skalpells des Plotters auf dem Trägerpapier. Bei speziellem Lichteinfall bleibt so der gesamte Text dauerhaft lesbar. Deutlicher zu erkennen - Schwarz auf Weiss -sind dagegen die "Punzen", typographische Reste der abgelösten Buchstaben.

Als "Punzen" bezeichnet der Typograph die geschlossenen Innenräume der Buchstaben: die innere Form des "A", "B", "D", "O", "P", "Q", "R", "a", "b", "d", "e", "g", "o", "p" und "q". Die Flächen der Buchstaben selbst werden "Fleisch" genannt.

Christel Koerdts Buchstaben-Kugel wird am Ende aus dem kompletten Text von Jean-Paul Sartres Roman "Die Wörter" bestehen. Das werden fast 60.000 Worte sein. Das sind mehr als 350.000 Buchstaben. Jeder zweite bis dritte Buchstabe hinterläßt im Durchschnitt eine Punze auf der Trägerfolie. Die Punzen manifestieren sich als rätselhafte Struktur, als Codierungen, die sich alleine nicht mehr entschlüsseln lässt. Trotzdem bleibt hierdurch die Herkunft der Buchstaben und ihre ehemalige Verteilung auf dem Papier dauerhaft konserviert.

Das Punzen-Chiffre verweist darauf, daß jedem Text, jeder Information, jeder Aussage - und sei sie noch so präzise formuliert - ein Geheimnis innewohnt. Die Missverständnisse beginnen bereits bei der Lektüre durch zwei verschiedene Menschen.

Die erste Fassung von "Die Wörter" entsteht 1954 kurz vor Jean-Paul Sartres fünfzigstem Geburtstag. Veröffentlicht wird das Werk (in überarbeiteter Fassung) aber erst zehn Jahre später. Es gilt als Sartres wichtigstes Werk. Seinen "Wörtern" verdankt Satre maßgeblich die Zuerkennung des Nobelpreises für Literatur des Jahres 1964, den er jedoch ablehnt.

Jean-Paul Sartres Roman läßt sich als Autobiographie lesen. Er schildert die Ereignisse seiner Jugend aus der Perspektive des kleinen Jungen Poulou.

Poulou sucht bereits die Gesellschaft von Büchern, als er noch gar nicht lesen kann. Als er es dann endlich gelernt hat, begeistert er sich im besonderen für ausgefallene, schwierige Wörter, die er nicht versteht, deren Klang er aber schätzt.

Der Titel von Jean-Paul Satres Autobiographie hätte nicht pragmatischer gewählt werden können. Das Produkt des Schriftstellers ist eine Ansammlung von Wörtern: nicht mehr und nicht weniger. Ein Stück Weltliteratur unterscheidet sich von einem Wörterbuch somit lediglich in seiner individuellen Art aber nicht in seiner Substanz, d.h. lediglich in der virtuosen Reihenfolge der Worte. Jean-Paul Sartres Titel legt zugleich desillusionierendes Zeugnis ab von den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts. Die Literatur hat nichts bewegt, keine Weltkriege verhindert und auch keine Sozialutopien durchgesetzt.

Dabei fängt alles so erwartungsvoll an: Durch das Schreiben erarbeitet sich der kleine Poulou eine Art Ersatzreligion. Aus der Tatsache, die Macht über die Wörter zu haben, leitet er die Vorstellung ab, der Erlöser der Menschheit zu sein.

Die schließliche Erkenntnis, die Welt dann doch nicht gerettet zu haben, führt zu der Einschätzung des Schreibens als einer Tätigkeit unter vielen: so viel oder so wenig wert wie alles andere.

In der neutralisierenden Rezeption der blossen Schrift wird die Sinnstiftung der "Worte" zur blossen Addition singulärer "Wörter" uminterpretiert. Die Identität bleibt gewahrt, aber der Inhalt ist eliminiert. Die Suggestion des Lesers wird aus dem Feld der individuellen Interpretation in das weite Feld vollkommener Freiheit entlassen: Nichts geht verloren. Aber alles wird frei verfügbar: Remix-bar.

Christel Koerdt führt die Faszination am Zerlegen an ihr formal konsequentes Ende. Der Zusammenhang verliert sich im einzelnen Bauteil. Das einzelne Bauteil zerfällt in Einzelteile. Manche Einzelteile verschwinden ganz, wenn man sie ablöst, bei anderen bleibt ein Rest stehen (Punze). Auch das Rudiment hat einen ästhetischen Reiz: ein momento mori im Mikrokosmos der Typographie.

Den Romantext vom Buchdruck in das Medium des Plottens zu übertragen, heißt, die Synthese aus Druckfarbe und Papier aufzusplitten in Träger und darauf autonom existierende Typen. Der einzelne Buchstabe besitzt seine eigene vom Träger unabhängige Existenz. Losgelöst vom Untergrund und zu einem stetig wachsenden Ball verklebt, sucht sich der Text eine neue - nun räumliche - Identität. Der Text wird zur Plastik. Das zuvor der Vorstellungskraft übereignete intellektuelle Weltmodell generiert zu einem haptisch greifbaren.

Christel Kordts Werktitel "Das Fleisch der Wörter" definiert ihre Aneignung des Textes im Feld der Bildhauerei. Der einzelne Buchstabe materialisiert sich autonom in der Gestalt von Klebefolie und bildet einen Verbund mit anderen Buchstaben: nur nicht länger linear, sondern als Klumpen.

Die allmählich wachsende Kunststoffkugel sagt: Ich bin eine riesige Menge Text. Ich bin nicht irgendein Text, ich bin ein herausragendes Stück Literatur des 20. Jahrhunderts. Das gesamte Vokabular meiner literarischen Herkunft ist vollständig enthalten aber nicht länger rekonstruierbar. Würde man von diesem klumpen "Fleisch" eine dünne Scheibe abschneiden, hätte man u.U. die Substanz eines Satzes, eines Absatzes, eines Gedanken.

Das Verfahren von Koerdts "Bildhauerei" sucht die Parallelitität zu Sartres Schreibe: Sartre versteht seine künstlerische Tätigkeit als zwanghaft. Ebenso manisch ist es, über Tage, Wochen und Monate Buchstaben mit dem Skalpell von Folie zu ziehen und zu einem Ball zu verkleben: Stück für Stück, Schicht für Schicht, im Schneckentempo Volumen schaffend, mehr als 350.000 identische Handbewegungen.

Jean-Paul Sartres Selbstverständnis als Künstler wandelt sich vom Heilsbringer zum Skeptiker, von einem leuchtenden Ausnahmetalent innerhalb der Gesellschaft zu Einem unter Vielen. Christel Koerdts betriebener Zeitaufwand zollt beiden Aspekten Tribut. Die Aneignung des Textes, Buchstabe für Buchstabe, überschreitet den Zeitaufwand des konzentrierten Lesens erheblich und multipliziert so auch die gewidmete Aufmerksamkeit umein vielfaches.

Gleichzeitig zwingt das Sich-Verlieren in der Monotonie einer immer gleichbleibenden Tätigkeit - Buchstaben-Ablösen, Buchstaben-Aufkleben - den Text zurück in seinen pragmatischen Urzu-stand: nackte Buchstaben.

Christel Koerdts "Das Fleisch der Wörter" ist mehr als eine Hommage an Jean-Paul Sartre. Sartre gibt lediglich das geeignete Vehikel ab für die aufgeführte Transferleistung der Gattung Literatur in die Gattung bildende Kunst, für die Verwandlung von Schrift in Plastik, für die Überführung von Fläche in Raum.

Jean-Paul Sartres Werk steht paradigmatisch für den Existenzialismus, so wie Christel Koerdt dieser Idee in Form der Buchstaben-Kugel Ausdruck verleiht: Die Kugel repräsentiert formalisierte Zeit. Sie ist sowohl ein Speicher für die Leistung des Schriftstellers, wie für die investierte Arbeits- und Lebenszeit der Künstlerin.

Schließlich wird die Sinnlichkeit von Jean-Paul Sartres Reflexionen über das Entstehen von Sprache, die Verwandlung eines typographischen Systems in Bilder, Bedeutungen und Emotionen, durch Christel Koerdts bildhauerischen Diskurs nicht unterlaufen. Ganz im Gegenteil: Die Faszination an dem, was sich an Gedanken im Inneren (der Kugel) und damit in den Windungen der persönlichen Geschichte (Kindheit) verbirgt, wird von ihr ohne Abstriche geteilt.

Poulou: "Ich nahm die beiden kleinen Bände, roch daran, betastete sie, öffnete sie (...). Vergebens: ich hatte nicht das Gefühl, sie zu besitzen. (...) Ich war den Tränen nahe und legte sie schließlich meiner Mutter auf den Schoß. Sie schaute von ihrer Arbeit auf: 'Was soll ich dir denn vorlesen, Liebling? Die Feen?' Ich fragte ungläubig: 'Die Feen, ist das da drin?'"

Wilhelm Kreimeyer
zurück